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Setzt der Staat die richtigen Prioritäten?

Manche Nachrichten verblüffen mich, obwohl ich täglich jede Menge davon „konsumiere“. Habe ich sie bisher übersehen, überhört oder spielen sie in der Darstellung der Realität

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Manche Nachrichten verblüffen mich, obwohl ich täglich jede Menge davon „konsumiere“. Habe ich sie bisher übersehen, überhört oder spielen sie in der Darstellung der Realität in Deutschland eine untergeordnete Rolle?

Das hier ist so ein Beispiel. Es mag sein, dass ich die Zahlen nicht richtig verstehe und deshalb die falschen Schlüsse ziehe. Andererseits – was ist daran schon misszuverstehen? In vielen Ländern ist das Rentenniveau im Vergleich zum letzten Nettoverdienst deutlich besser als in Deutschland. Uns wird aber doch immer erzählt, dass unser Land so toll ist und dass es „uns“ so gut ginge. Gefühlt sind es vor allem Union und FDP, die uns das zu verkaufen versuchen. Dass die Realität für viele Menschen in Deutschland aber ganz anders aussieht, hat in der Welt der Schönredner keinen Platz. Und manchmal schlägt die SPD auch in diese Kerbe.

Gerechtigkeitsthema

Wie kann es sein, dass die deutschen Wähler solche politisch motivierten Fehldiagnosen nicht noch viel härter sanktionieren? Haben wir unseren Nerv für Gerechtigkeit verloren (die Ergebnisse der SPD und der Linkspartei lassen IMHO darauf schließen) oder reichen die Renten den meisten doch, um über die Runden zu kommen?

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Haushalt / Soziales

Vielleicht ist uns ja auch bewusst, dass wir bereits so viel Geld in unsere Sozialsysteme stecken, dass die Spielräume immer geringer werden? Aber machen wir uns Gedanken über den Anteil des Sozialbudgets am Gesamtetat des Bundes, der mittlerweile bei ca. 42% (138 Mrd. €!) liegt, dass uns diese Größenordnung von zementierten und doch nach oben offenen Ausgaben die Luft zum Atmen nehmen und uns, zuzüglich des auch hieraus erwachsenen Schuldendienstes, die Spielräume für die Gestaltung unserer Zukunft nehmen? Quatsch! Der Deutsche hat für sowas keine Antennen, sagt man doch immer. Angeblich verstehen wir nichts von Wirtschaft, vom Geld auch nicht. Deshalb gibt es die FDP oder die INSM, die uns genau erklären, wie das alles funktioniert – aus ihrer höchst eigenen neoliberalen Sicht natürlich. Das hat in den letzten Jahrzehnten gut funktioniert. Das Gesundheitssystem, das angeblich (immer noch) eines der besten weltweit ist (wie lange denn noch?), wurde privatisiert, es muss Kohle verdient werden. Der Wettbewerb hat der Qualität, wie wir alle mindestens ahnen, wirklich echt gut getan.

Die politischen Konsequenzen für die FDP waren temporär, was man über die Qualität unseres Gesundheitswesens nicht unbedingt sagen kann.

Die Militärausgaben betragen in diesem Jahr etwa 37 Mrd. €. Der Prozentanteil dafür liegt bei 11,2% und ist damit der zweitgrößte Posten im Bundeshaushalt. Für Bildung und Forschung geben wir gerade mal 17 Mrd. € aus, obwohl doch alle Politiker ständig beteuern, dass dieses Land ohne natürliche Ressourcen auf die gute (Aus-) Bildung seiner Menschen angewiesen wäre. Wenn es aber drauf ankommt, fehlen Mittel. Für Lehrer, für intakte Klassenzimmer, für adäquate, moderne Ausstattung sowieso. Von der Verkehrsinfrastruktur will ich gar nicht erst anfangen. Oder stellt man noch Fragen danach, warum solche Pannenevents wie beim BER oder bei Stuttgart 21 oder zuletzt beim neuen ICE Berlin/München ständig stattzufinden scheinen und sich als running gags etabliert haben?

Vergleich mit anderen europäischen Staaten

Ich habe mal nachgesehen, wie die deutsche Staatsquote im Vergleich mit anderen EU-Ländern ausschaut. Die Staatsquote stellt das Verhältnis der Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt dar. Insbesondere die Liberalen sowie die Vertreter unserer Wirtschaft monieren stets, dass unsere Staatsquote viel zu hoch sei. In 2014 betrug sie 44%. Sie ist damit deutlich geringer als diejenige, die in folgenden EU-Ländern im gleichen Jahr erreicht wurde: Dänemark, Belgien, Frankreich, Finnland, Griechenland, Italien, Niederlande, Schweden. Und das sind nicht einmal alle, die über dem deutschen Wert liegen (s. Link oben).

Etwas spezifischer, was mein Thema anlangt, ist die Verwendung der Prokopf-Beträge, die von europäischen Staaten für den so genannten Sozialschutz (s. Kasten) eingesetzt werden. Im Jahr 2015 liegen wir im europäischen Vergleich an elfter Position. Vor Deutschland rangieren die folgenden zehn europäischen Länder (Reihenfolge nach dem eingesetzten Betrag): Luxemburg, Norwegen, Schweiz, Dänemark, Schweden, Niederlande Finnland, Frankreich, Österreich, Belgien.

In all diesen Ländern bringt der Staat also für jede Bürgerin und jeden Bürger mehr Geld für den so genannten Sozialschutz auf als hier in Deutschland. Dabei spricht die Regierung unentwegt davon, dass wir das wirtschaftlich gesehen erfolgreichste Land Europas und eines der reichsten Länder der Welt sind. Wie passt das zusammen damit, dass die Armut sichtbar zunimmt und die Politiker diese Tatsache nicht einmal zugeben wollen?

Sozialschutz

Sozialschutzsysteme fangen Lasten auf, die dem Einzelnen durch Risiken und Bedürfnisse in Verbindung mit folgenden Lebensumständen entstehen:

Sozialschutz


Sozialschutzsysteme fangen Lasten auf, die dem Einzelnen durch Risiken und Bedürfnisse in
Verbindung mit folgenden Lebensumständen entstehen:

1. Arbeitslosigkeit
2. elterliche Pflichten
3. Krankheit und Gesundheitsversorgung
4. Invalidität
5. Verlust des Partners/der Partnerin  oder eines Elternteils,
6. Alter
7. Wohnen und soziale Ausgrenzung.

Quelle

Naiv?! Ich will meine 2¢ dennoch dazu geben.

Die Entscheidung, wie viel Geld eingesetzt wird, hängt ausschließlich davon ab, welche Prioritäten die jeweils Regierenden setzen bzw. gesetzt haben.

Mit klaren Worten: Unseren Regierungsparteien lag mehr an anderen Dingen als am Wohlergehen ihrer Bürger. Vermutlich hatten sie „das große Ganze“ im Blick. Sie haben ihre Augenmerk auf andere Projekte gelegt. Wahrscheinlich war es immer schon so. In einer repräsentativen Demokratie ist unser Einfluss als Bürgerinnen und Bürger eben auf unsere Stimmabgabe reduziert, die alle 4 Jahre einmal stattfindet. Darüber hinaus haben wir nichts zu kamellen. Das Bewusstsein für dieses Manko in der real-existierenden Demokratie hat sich stark verändert. Am wahrscheinlichsten wird es wohl sein, dass sich dieses Bewusstsein aufgrund der neuen Kommunikationsmethoden und -Mittel so stark verändert hat. Da ist es fast zwangsläufig nachzuvollziehen, dass staatliche Stellen die „Bewegungsfreiheit“ von Meinungen ein wenig einhegen. Das so genannte Netzdurchdringungsgesetz ist deshalb zu Recht sehr unbeliebt und wird wohl so nicht lange seine Wirkung entfalten können.

Traurig finde ich, dass die Aktivisten, die sich in solchen Fragen enorm durchschlagskräftig erweisen, bei anderen (sozialen) Projekten wenig zu hören sind.

***

Mitbestimmung stärken

Dieser Tage habe ich einen hochinteressanten Artikel gelesen, der sich mit der Frage beschäftigt, weshalb es in Deutschland so schwierig ist, Volksabstimmungen oder zumindest mehr plebiszitäre Elemente in die Politik einzuführen. Es lohnt sich wirklich, ihn zu lesen. Er gibt viel Stoff zum Nachdenken. Und für die strikten Anhänger der parlamentarischen Demokratie gibts hier das Gegenstück.

Warum tut die Politik in Deutschland nicht mehr für ihre Bürger?

Ich neige zu der Feststellung, dass einer der großen Unterschiede beispielsweise zwischen Frankreich und Deutschland darin liegt, dass die Franzosen ausgesprochen schnell protestieren, während es dafür in Deutschland kaum eine Bereitschaft gibt. Wahrscheinlich sind wir staatshörig oder um es freundlicher auszudrücken: wir sind zu gutgläubig und zu langmütig.

Daran scheint sich in den letzten Jahren zwar einiges geändert zu haben. Ich denke an die Pegida – Idioten und die auf den Plan getretene AfD. Aber hoffnungsvolle Zeichen stelle ich mir in dieser Hinsicht schon etwas anders, vor allem konstruktiver vor.

Seit der Industrialisierung waren es stets linke Parteien, die für die Interessen von abhängig Beschäftigen, von Arbeitern und Angestellten, eingetreten sind. Flankiert wurden ihre Aktivitäten durch die sich entwickelnden und lange Zeit hindurch mächtigen Gewerkschaften. Das ist europaweit passé. Linke Parteien und Gewerkschaften haben das Vertrauen vieler Menschen verloren. Sie setzen stattdessen zunehmend auf das rechte politische Spektrum, auf nationalistische Töne. Wahrscheinlich spielt die Rückwärtsgewandtheit solcher Parteien eine Rolle, die sich einerseits in programmatischen Aussagen widerspiegeln, die aber andererseits hinsichtlich ihrer Realitätstauglichkeit auch von vielen ihrer Anhänger infrage gestellt werden.

Der um sich greifenden großen Zukunftsunsicherheit haben die linken Parteien (einschließlich der SPD) nichts Überzeugendes entgegenzusetzen. Die Menschen sind sich im Klaren darüber, dass die meisten Aufgaben nur auf internationaler und nicht auf nationaler oder gar regionaler Ebene gelöst werden können.

So bleiben Projekte wie Rente mit 63, der Mindestlohn und andere Dinge, die der SPD als Erfolge anzurechnen wären. Aber diese wurden nicht honoriert.

Ich fürchte, das hat weniger mit der programmatischen Ausrichtung, mit den Themen oder solchen Lösungen zu tun, sondern damit, dass die großen Linien einer linken Politik nicht mehr entwickelt und überzeugend vermittelt werden.

Damit wären wir bei einer für die SPD bisher noch gänzlich ungelösten Aufgabe – der personellen Erneuerung.

Visionen á la Schulz

Nachdem der Reiz des Neuen verflogen war und Martin Schulz durch eigene aber auch durch Fehler der Partei ins Straucheln und sodann auf die Verliererstraße geraten war, schien durch die hohen Stimmenverluste die Gelegenheit zur programmatischen und personellen Erneuerung gekommen. Dass es nicht geklappt hat, lag mal nicht an der Partei. Es waren die Jamaika-Umstände. Trotz der wochenlangen Sondierungsgespräche hat die SPD es versäumt, sich hinreichend auf diese Eventualität vorzubereiten. Es war wieder so, wie ich schon bei Schulz’ Alleingang seit März kritisiert hatte. Der Parteiapparat hat ihn programmatisch und konzeptionell unzureichend, wenn überhaupt, unterstützt. Es war nichts vorbereitet. So auch nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche. Dass Schulz bei seiner Absage der nächsten GroKo blieb und das so einsilbig und unelegant vertreten hat, war – ich kann es nicht anders ausdrücken – völlig verrückt und hat der Partei erneut geschadet. Schulz’ Verhalten hat denen Vorschub geleistet, die vor- und nachher die SPD als Umfaller- und Verräterpartei verunglimpft haben. Jens Spahn, Volker Kauder oder Julia Klöckner waren nur die offiziellen Lautsprecher einer „Gemeinde“, die im Internet dafür noch ganz andere Töne angeschlagen hat. So vergiftet man ein Gesprächsklima noch bevor ein Gespräch stattgefunden hat.

Visionen sind übrigens toll (auch wenn Helmut Schmidt diese Meinung nicht teilte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzte gehen“). Aber dass Schulz beim SPD-Parteitag die Vereinigten Staaten von Europa in diesen eher europakritischen Zeiten eben mal aus der Hüfte schoss, fand ich echt krass. Für mich hat diese „Vision“ keine Originalität, sie zeugt eher von einer großen Ideenlosigkeit. Das wird nicht lange gut gehen, ob nun 91 % oder 100%. Gewogen und für zu leicht befunden! Und mit Andreas „Bätschi“ Nahles oder mit Olaf Scholz muss mir auch keiner kommen. Wir brauchen neue Leute. Solche, die nicht für die Agenda 2010 stehen und die den Mut haben, sich gegen das, was wirklich in diesem Land geschieht, wirksam aufzulehnen. Am besten mit überzeugenden programmatischen Aussagen. Visionen erwarte ich im Moment nicht.

Quelle Featured-Image: HorstSchulte.com

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Horst Schulte
Herausgeber, Blogger, Autor und Hobby-Fotograf
Mein Bloggerleben reicht bis ins Jahr 2004 zurück. Ich bin jetzt 70 Jahre alt und lebe seit meiner Geburt in Bedburg, nicht weit von Köln entfernt. Meine Themen sind Politik und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und ein wenig mehr.
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